Die Herrschaft der Alten by Alfred Bekker

Die Herrschaft der Alten by Alfred Bekker

Autor:Alfred Bekker [Bekker, Alfred]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2011-10-15T00:00:00+00:00


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Wenig später erreichte Sara den siebenundzwanzigsten Stock und stand dann vor der Wohnungstür. Sara hatte Bahar noch nie hier besucht. Aus irgendeinem Grund hatte es sich nie ergeben, obwohl sie sich in all den Jahren mehr oder minder regelmäßig gesehen hatten.

Eine alte Frau mit schneeweißem, bis zum Gesäß reichendem Haar erwartete sie, als sich die Tür vor ihr öffnete. Die alte Dame hatte ein so faltiges Gesicht, dass Sara an gegerbtes Leder oder das reliefartige 3D-Satellitenbild des Mars erinnert wurde. Um den Hals hingen ihr mehrere Amulette, in die bunte Steine eingearbeitet waren.

Sara wusste nicht genau, wie alt Carmen Müller war, aber sie nahm an, dass sie so zwischen neunzig und hundertzehn Jahre zählen musste.

Allerdings gab es eigentlich keinen Grund, so faltig auszusehen, ganz gleich wie alt man war. Es sei denn, jemand verzichtete auf die Hautstraffungen, die inzwischen eigentlich Routine waren, seit die Mehrheit der Hochbetagten es durchgesetzt hatte, dass Anti-Aging-Maßnahmen reguläre Leistungen der Krankenversicherungen wurden. Sara hatte von Gruppen mit extremen religiösen Ansichten gehört, die der Meinung waren, dass der menschliche Körper heilig wäre und es gegen den göttlichen Plan sei, in dessen natürliche Veränderung einzugreifen.

Bahar hatte nie davon gesprochen, dass ihre 3Ur solch einer Richtung anhing. Vielleicht war es ihr aber auch einfach nur peinlich gewesen, dass ihre 3Ur aussah wie ein verschrumpeltes Reptil.

»Kommen Sie herein«, sagte die alte Frau. Sara bemerkte die verschnörkelten, runenartigen Zeichen, mit denen ihr Kleid bedruckt war.

Mit bedächtigem Schritt führte Carmen Müller ihren Gast ins Wohnzimmer. »Setzen Sie sich …«

»Danke.«

»Sie sind in Bahars Alter?«

»Ja.«

»Dann darf ich du sagen?«

»Gerne. Das ist mir eigentlich auch lieber.« Sara setzte sich in einen der Sessel. Die Wände waren mit Regalen verstellt, in denen sich allerlei ungewöhnliche Gegenstände befanden. Bücher zum Beispiel – oder um genau zu sein: Papierbücher, denn wenn man von einem Buch sprach, meinte man ja eigentlich in erster Linie eine über das Netz verfügbare elektronische Ausgabe. Sara kannte Papierbücher nur aus der Museumsbibliothek. Die voluminösen Bände waren von einer dicken Staubschicht bedeckt und trugen so seltsame Titel wie ›Zeichen der Geheimen Macht‹ oder ›Absonderliche Kulte‹. Die alte Dame schien ein ausgeprägtes Interesse an Okkultismus, Wunderheilungen und Naturheilkunde zu haben. Unterbrochen wurden die Reihen dieser alten Bücher immer wieder von bemalten Steinen, Amuletten, totemähnlichen Schnitzereien und kunstvoll gefertigten Figuren von geheimnisvoller Herkunft und Bedeutung. »Wo ist Bahar?«, fragte Sara schließlich.

Carmen Müller gab darauf keine Antwort. Stattdessen nahm sie einen etwa faustgroßen Stein aus einem der Regale und reichte ihn Sara.

»Nimm diesen Stein in die Hand!«

»Aber …«

»Nimm schon! Er leitet negative Energien ab!«

Sara gehorchte. Der Stein war glatt und kalt. Sara nahm an, dass er künstlich hergestellt worden war. Für eine esoterisch interessierte Käuferschicht wurden solche Steine an jeder Ecke angeboten. Die Teureren waren mit zum Teil erstaunlichen Lichtbrechungseffekten ausgestattet.

Sara kannte solche Steine eigentlich mehr als magische Requisiten, die die realen Mitspieler der Fantasy-Holo-Dramen benutzten. Benn besaß auch mehrere davon, allerdings glaubte der ganz sicher nicht an irgendwelche negativen oder positiven Energien, die mit diesen Steinen beeinflusst werden konnten.

»Meine 3Ur-Enkelin macht, was sie will. Sie kommt und geht und lebt im Grunde ihr eigenes Leben«, sagte Carmen Müller.



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